GroKo-Bischof

Der evangelisch-lutherische bayerische Landesbischof und Ratsvorsitzende der EKD Heinrich Bedford-Strohm schreibt auf Facebook: „Ich begrüße es ausdrücklich, dass die Koalitionsverhandlungen zu einem Ergebnis geführt haben, auf das sich alle beteiligten Parteien einigen konnten. Alle, die nun über Annahme oder Ablehnung dieses Ergebnisses zu entscheiden haben, müssen gründlich abwägen, wie sie ihrer Verantwortung am besten gerecht werden können. Denn Verantwortung ist jetzt gefragt. Es geht nicht darum, wie man sich persönlich besser fühlt, sondern es geht darum, wie den Menschen, um die es geht, insbesondere den Schwächsten und Verletzlichsten, am besten geholfen ist. Es kann jetzt auch nicht zuerst um Parteiinteressen gehen sondern es geht um Verantwortung für das ganze Land, für Europa und, gerade im Hinblick auf die uns so wichtigen globalen Gerechtigkeitsfragen, auch für die Welt. Wer jetzt eine verantwortliche Entscheidung zu treffen hat, muss sich genau Rechenschaft darüber ablegen, was die realistischen Alternativen zur Bildung dieser Koalition sind und bei welcher der Alternativen die Wahrscheinlichkeit am größten ist, dass Schritte in die richtige Richtung getan werden. Jetzt wünsche ich denen, die die Nacht durchverhandelt haben, aber vor allem eine dicke Portion Schlaf!“ Ich selber bin nicht bei Facebook, aber mir wird gesagt, Bedford-Strohm nutze seinen betreffenden Account ganz offiziell in seiner Rolle als Bischof.

„Alle, die nun über Annahme oder Ablehnung dieses Ergebnisses zu entscheiden haben“: Gemeint sein können damit nur die SPD-Mitglieder, die in Kürze über den Koalitionsvertrag abstimmen werden. Im allgemeinverbindlichen pastoralen Tonfall des Bischofs unternimmt Bedford-Strohm damit einen sehr spezifischen parteipolitischen Beeinflussungsversuch, bei dem er die Große Koalition als alternativlos erscheinen lässt.

Ich schließe mich der theologischen Position an, dass es unmöglich ist, als echter und glaubwürdiger Christ unpolitisch zu sein, dass Christsein bis in die „Niederungen“ des äußerst Konkreten hinein notwendig politisch ist, und dass es daher völlig unsinnig wäre, von Christen parteipolitische Neutralität zu fordern.

Trotzdem stellt sich mir in diesem Fall eine mehrfache bedenkliche Schieflage dar:

1.) in den politischen Äußerungen von Christen sind etwaige kirchliche Hierarchiebezüge ungültig bzw. inexistent. Auch ein Bischof kann grundsätzlich in eigenem besonnenem Ermessen konkret parteilich Stellung beziehen. Aber er kann es nicht als Bischof tun; dies kann er nur aus derselben gesellschaftlichen Position heraus tun wie jeder andere Christ als solcher auch. Diese Bedingung wird hier gefährlich verunklart, sowohl durch die grundlegende Widmung des Accounts als auch durch den amtsgeistlichen Äußerungsstil. Dadurch wird suggeriert, die Kirche und ihre Theologie wären legitimiert, das politische Gewissen ihrer einzelnen Gläubigen vom Amts wegen zu beeinflussen. Das jedoch ist völlig inakzeptabel und unzulässig. Keine politische Partei kann als solche beanspruchen, den Willen von Christen als solchen besser zu repräsentieren als eine andere.

2.) Die tatsächliche Unmittelbarkeit der parteipolitischen Zielrichtung und Bezüge der Äußerung wird tendenziell verschleiert, sie will sich bedeckt halten, will sich nicht als das bekennen, was sie ist: eine Wahlkampftrommel. Das ist sehr ungut. Wenn Bedford-Strohm geschrieben hätte: „Hey, ihr SPD-ler, ich will, dass ihr für die GroKo stimmt“, wäre das weitaus besser, weil offener und ehrlicher gewesen. Darüber hätten die Meisten wohl nur geschmunzelt. Aber so hat es leider das Zeug zu einem kleinen Skandal.

3.) Christen, egal ob sie kirchliche Amtsträger sind oder nicht, sollten ihre politische Meinung grundsätzlich mit einer gewissen Behutsamkeit und Zurückhaltung in die öffentlichen Debatten einbringen, damit ihre Stimme und das Gehör, das diese erhält, sich nicht abnützt, sich nicht unnötig verbraucht. Das halte ich für eines des Grundgesetze des christlichen Politischseins. Es ist in dem Sinne auszulegen, dass beispielsweise ein echter christlicher Politiker nicht dauernd betont als Christ auftreten sollte, sondern durchaus weit überwiegend „einfach“ als Politiker, und speziell als Christ nur dann, wenn dies zur Begründung seines Handelns wirklich erforderlich und entscheidend ist. Gerade für einen amtierenden Bischof sollte umgekehrt gelten, dass die Auswahl der Themen, für die er sich parteipolitisch einsetzt, einer wirklich sehr anspruchsvollen Auslese folgen sollte. Vor diesem Maßstab ist die Frage „GroKo ja oder nein“ für meinen Geschmack ganz klar nicht bedeutsam genug. Ein Christ hat sich als solcher für oder gegen bestimmte politische Effekte einzusetzen. Eine Große Koalition ist aber selbst kein politischer Effekt, sondern bestenfalls ein halbwegs kausales Mittel zu einem solchen politischen Effekt – ein Mittel, dessen Effektivität aber wahrlich nicht völlig zweifelsfrei zu erscheinen vermag. Wenn ein Bischof sich medienöffentlich in das Schmieden politischer Allianzen einmischt, verpulvert er damit das geistliche Arsenal seiner politischen Munition. Ein solcher Zug hat sich kein Kompliment verdient. Er wird gerade nicht jener großen Verantwortung gerecht, die Bedford-Strohm in seinem Facebook-Post so gravitätisch beschwört.

Brexit

Vorweg eine harte, nüchterne Feststellung: Die Briten haben nie „wirklich“ zum geeinten Europa gehört, sie haben sich nie entsprechend verhalten und auch nie entsprechend gefühlt. Es ist gut, dass mit dem bisherigen grenzenlosen Feilschen um britische Sonderrechte in der EU jetzt konsequent Schluss sein wird, weil das wünschenswerte Klarheit schafft.

Abgesehen davon: Der „Brexit“ ist ein typisches Beispiel für eine Situation, in der Ideen über Realitäten gestellt werden. Als religiöser Mensch habe ich das nicht grundsätzlich zu beanstanden. Aber welche Ideen? „Europa“ war und ist eine Idee, die zwar schön und gut ist, mit dem entsprechenden Pathos der 1970er- bis 1990er-Jahre allerdings deutlich überbewertet war. Der „Brexit“ hinwiederum nimmt in Großbritannien offensichtlich eine aufgeblasene politische, nationale und kulturelle Identifikationsfunktion von in Wahrheit noch einmal erheblich geringerem echtem substantiellem, geschweige denn existenziellem Wert ein. Gewinnen wird Großbritannien mit der Verwirklichung dieser Idee in der konkret-praktischen Realität überhaupt nichts, verlieren einiges. Jeder, dessen Denken nicht von Ideologen geblendet ist, kann diese Tatsache nicht verkennen.

Aber das Denken sehr vieler ist eben von Ideologien geblendet – nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Europa. Ihre Zahl nimmt überall wieder zu, und ihre Ideologien sind zweifellos durchweg das, was man in plumper Lagerisierung „rechts“ zu nennen pflegt. Dieser „rechte“ Partikularismus muss aber nicht nur apotropäisch, sondern auch diskursiv ernst genommen werden, insofern hinter ihm Ängste drängen. Zu den Ursachen dieser Ängste gehören unter anderem ganz wesentlich ein Verfall der öffentlichen Anwaltschaft für echte, persönlichkeitsformende Bildung entgegen bloßer – immer spezialistischerer und „fachidiotischerer“ – Berufsausbildung, eine teilweise rätselhafte, sicherlich komplexe, sicherlich multikausale Epidemie orthopsychischer Schwäche in den durchschnittlichen Charakteren unserer mittleren Generationen, und ein dramatischer Verlust an spiritueller Lebenshaltungsfähigkeit. Die „Eliten“ in Großbritannien waren mit überwältigender Mehrheit gegen den „Brexit“. Es sind im wesentlichen die „dumpfen“ und vielfach irrationalen Motivationen der „kleinen Leute“, die Großbritannien aus der EU katapultiert haben – weil das, wovon die Geschichte der letzten Jahrzehnte diese „kleinen Leute“ wirklich „abgehängt“ hat, zu einem ganz wesentlichen Teil nicht materieller Wohlstand ist, sondern Lebensorientierung. Der „Brexit“ ist vor allem Orientierungssuche – verzweifelte.

Weitaus schuldiger noch als die britischen Wähler sind am „Brexit“ allerdings die Funktionäre der zentralen EU-Verwaltung.  Diese pseudodemokratischen Totalversager haben das vermeintlich geeinte Europa zu einem politischen After-System degenerieren lassen, das so kaum jemand will – auch ich nicht. Dieser Augiasstall muss jetzt endlich ausgemistet werden. Ein Misstrauensvotum gegen die EU-Komission und eine sofortige Auflösung des Europäischen Parlaments wären vielleicht ein guter Neuanfang.

TTIP-Leaks

TTIP muss jetzt um jeden Preis verhindert werden – denn selbst wenn die Inhalte dieses geplanten Abkommens sachlich akzeptabel wären (was sie nicht sind): Die Vorgehensweise der Initiatoren, die in ihrer fundamental antidemokratischen Gesinnung eine unerhörte Beleidigung jedes Bürgers irgendeiner ernsthaft als solche zu bezeichnenden Republik darstellt, verbietet kategorisch jegliche Zustimmungsfähigkeit dieses Machwerks.

Ramelow-Video

Inoffizielle Aufnahme von Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen („Die Linke“ / praktizierender Christ), wie er zu „Antifa“-Aktivisten sagt: „Es kotzt mich an, wie arrogant ihr seid, wie überheblich ihr gegenüber Menschen seid, die mit Flüchtenden exzellent umgehen.“ Offenbar zitiert er zuvor deren situativen Slogan, der die Wendung „…überall wo die Nazis sind…“ enthält. Offenbar fühlt Ramelow sich in diesem Moment, am Rande einer wohl nicht allzu bedeutenden lokalen Veranstaltung, ungefilmt. Es ist zwar schwer, die Situation ganz genau zu rekonstruieren, jedenfalls mit dem minimalen Recherche-Budget, das ich dafür übrig habe; folgendes aber lässt sich dazu gewiss sagen:

Dass der Filmende, wie seine Aufnahme dokumentiert, kontert mit: „Warum duzen Sie uns? Wir duzen Sie doch auch nicht“, bringt Ramelow aus dem Konzept. Rein rhetorisch mag das ein geschickter Konter gewesen sein; gleichzeitig aber gibt im Gesamteindruck der Szene genau diese Replik dem Vorwurf recht: Sie klingt nicht echt empört, sondern widerlich herablassend. Ramelow kennt seine „Genossen“ gründlich. Tatsächlich ist ein gewisser unsäglicher selbstgerechter „Weltretter“-Hochmut eines der am unangenehmsten hervorstechenden Charaktermerkmale vieler „typischer Linker“. Das kann ich aus eigener Erfahrung leider nur bestätigen – und zwar als jemand, der sich mit den Linken „am liebsten solidarisieren würde, wenn es ihm denn möglich wäre“; aber es ist mir nicht möglich, und ich frage mich seit langem, wie Ramelow das schafft.

Ob der von beiden Seiten der Meinungsfront gleichermaßen genüsslich geyoutubete Vorfall von Seiten Ramelows eine Meisterleistung an diplomatischer Geschicklichkeit war, sei einmal dahingestellt. Persönlich kann ich nicht umhin, ihn tendenziell sympathisch zu finden. Und glaube zudem ganz und gar nicht, dass er Ramelow künftige Wiederwahlstimmen kosten wird.

Böhmermann vs. Erdogan

Böhmermann sagt mit Absicht, was man nicht sagen darf, als Beispiel dafür, was man nicht sagen darf: Provokation von ganz durchschnittlicher Machart jeder Pubertät. Noch erschütternder als die Frage, wer im Fernsehen sehen will, was er sich in jedem Hinterhof reinziehen kann, ist die Frage, weshalb unser gegenwärtiger Gesellschaftszustand grundsätzlich so seltsam beeinträchtigt ist in seiner Fähigkeit, auf Pubertät pädagogisch angemessen zu reagieren. Vor allem aber: Wie kann so etwas in einem öffentlich-rechtlichen Fernsehen ungehindert über die Welle gehen? Bevor Böhmermann bestraft wird, sollte der betreffende Sender bestraft werden, weil er einen geistig Minderjährigen nicht angemessen beaufsichtigt hat. Alle anderen Aspekte der Frage sind nebensächlich. Die persönliche Psychologie von Herrn Erdogan geht uns nichts an und kann uns gleichgültig sein. Wenn er strafrechtliche Ansprüche hat, werden unsere Juristen das schon feststellen.

Spendenaufrufe

Jetzt hat wieder die Zeit der vorweihnachtlichen Spendenaufrufe begonnen, die mich jedesmal in ein schwieriges Dilemma bringen: Einerseits bewegt mich die Vorstellung, „mit fünf Euro“, wie es immer heißt, eine Krankheit zu heilen, einen Schulbesuch zu ermöglichen oder gar buchstäblich ein Leben zu retten. Andererseits ist die kritische Frage, die sich heute dabei stellt, dank vergangener Skandale mit der Folge entsprechender Transparenz-Initiativen gar nicht mehr so sehr die, ob mein Geld dabei sein Ziel auch wirklich sinnvoll erreicht; sondern die viel grundsätzlichere des bleibenden und immer größer werdenden Skandals, dass all die Jahrzehnte, die wir unser gängiges Modell von „Entwicklungshilfe“ nun schon praktizieren, zu keinen hinreichend effektiven strukturellen Verbesserungen in den betreffenden Ländern geführt haben, und überdies, dass wir mit unseren kleinen Privatspenden „bezahlen“ sollen für das, was die Hauptakteure und Hauptverantwortlichen des gegenwärtig herrschenden gnadenlosen globalen Kapitalismus nicht nur in der Vergangenheit verschuldet haben, sondern munter immer noch weiter verschulden. „Kein Mensch muss heute hungern“, belegt Jean Ziegler glaubhaft. So gesehen trägt der gutherzige deutsche Privatspender mit seinem finanziellen Engagement perverser Weise noch dazu bei, das globale System der Ungerechtigkeit und Ausbeutung aufrecht zu erhalten und zu zementieren. Eine wahrhaft tragische Situation. Denn als Christ muss einem gewiss zunächst und vor allem bewusst sein, dass die heute Hungernden nichts von irgendwelcher „Politisiererei mit Blick auf morgen“ haben. Aber es ist ein reeller und daher schwer bedrückender Gedanke, dass jede Hilfe, die ich mit meiner vorweihnachtlichen Spende an humanitäre „NGO’s“ einem Hungernden bringe, strukturell zwei oder drei neue Fälle von Hunger erzeugt – eben wegen des „N“ in „NGO“. Als Denkschritt einer provisorischen Moral kann in diesem Dilemma wohl nur helfen, die Realität der genauen Zuordnung „meiner fünf Euro“ zu einem einzelnen, bestimmten, konkreten Fall von Hunger zu hinterfragen. Die Antwort fällt relativ leicht: Diese „Propaganda“-Realität ist schlichtweg nicht gegeben, in keiner Weise; sie kann gar nicht sein. Daraus ergibt sich als wichtigste Reaktion auf die Spendenaufrufsflut der Vorweihnachtszeit, das vielfache materielle Elend auf der Welt nie zu vergessen, und in allem, was wir tun, die globale Not zu bedenken, und nicht nur in den paar Minuten, die es dauert, eine gewissensberuhigende Spendenüberweisung auszufüllen.

Paris, 13.11.2015

Was mir sehr zu schaffen macht, ist die selbstverständliche Ignoranz, mit der fast gleichzeitige und genauso schlimme Terroranschläge, die weltweit geschehen, in den europäischen Medien derzeit so gut wie überhaupt keine Erwähnung finden, so als wäre derartiger Terror dort nicht so schlimm, wo man doch ohnehin schon daran gewöhnt sein muss, dass ein Bombe oder ein Massaker mit automatischen Waffen mal eben hundert Kinder in den Tod reißt. Ansonsten gibt es zu diesem Thema für mich nichts zu sagen, das besser wäre als die nutzlose und ermüdende „Bewegung heißer Luft“, von der unsere Medien jetzt voll sind.

Zum Tod von Helmut Schmidt

Helmut Schmidt war mir, wie so vielen, immer „irgendwie“ sympathisch. Ich kann diese Sympathie nicht genau erklären. Er war gerade Kanzler geworden, als ich geboren wurde. Mit meinem erwachenden gesellschaftlichen Bewusstsein rückte er in den Rang des Ex-Kanzlers auf und begleitete mich von dort aus mehr als drei Jahrzehnte lang. Mir gefielen sein nüchterner Humanismus, der zu einer kühl, aber verlässlich wirkenden hanseatischen Menschenliebe keinerlei Idealismus zu benötigen schien, die Klarheit und Präzision seiner Rede und seine eigensinnige, charakterköpfige Bildungsaura, und mir imponierte sein offiziersaristokratischer Habitus der Pflichterfüllung („er sei nicht sonderlich gern Kanzler gewesen und außerdem während seiner Amtszeit ungefähr hundert Mal bei offiziellen Anlässen wie beispielsweise Bundestagsdebatten infolge seines Herzrhythmusleidens kurzzeitig bewusstlos geworden“) einschließlich souveränem völligem Ignorieren der Tatsache, dass ihn in seinen politischen Aktivitäten kaum jemand in Deutschland so wenig mochte wie seine eigene Partei, deren Vorsitzender er nie wurde. Bereits 2011 führte die FAZ ein Interview mit Helmut Schmidt über „die letzten Dinge“, das sie sich zum Anlass seines Todes vier Jahre lang aufgehoben hat (weit vorausblickender Journalismus!). Darin sagt der Altkanzler:

„Die Vorstellung, dass es Dinge gibt, die wir nicht begreifen, und dass sie möglicherweise zusammenhängen, wird es immer geben, und bei primitiveren Geistern besteht nun einmal das Bedürfnis, diese Vorstellung eines Zusammenhangs zu personifizieren. (…) Im Christentum steckt eine Reihe von seltsamen Phänomenen. Das Christentum bildet sich ein, eine monotheistische Religion zu sein, ist es aber gar nicht. Jesus Christus ist viel wichtiger als der liebe Gott. Und außerdem gibt es noch einen Heiligen Geist – den hat Jesus Christus nicht erfunden, den hat ein Konzil erfunden. Und neben dieser heiligen Dreieinigkeit gibt es noch die Gottesmutter Maria, die in Polen viel wichtiger ist als Jesus und als der liebe Gott. Der Monotheismus ist eine Selbsttäuschung. Das glaubt der Ratzinger, aber der auch nicht ganz. Es ist auch eine Selbsttäuschung der Protestanten. Die alten Griechen waren da viel ehrlicher, die haben gleich viele Götter erfunden. Und nicht bloß vier. Wie die Jungfrau zum Kind gekommen ist, kann kein Christ wirklich glauben. Aber es wird gelehrt. Und keiner glaubt es. Das sind sehr seltsame Dinge. Es wird gelehrt kraft Autorität, kraft institutionalisierter Autorität. Und natürlich muss auch ein Theologiestudent, der die Hoffnung hat, Gemeindepfarrer und später Propst und noch später Bischof zu werden, so tun, als ob er es glaubt.“

Das Schmidt-Typische dieser Äußerungen scheint mir in der korrekten Faktizität reproduzierten Wissens bei völlig fehlender Kapazität zu einer „trans-materialistischen“ Wertung der betreffenden Wissensinhalte zu liegen. Der lateinische Ursprung des Wortes „Person“ bezeichnet die Maske des antiken Schauspielers, durch die dessen Stimme hindurch klingt (per-sonare). Die theologische Aussage über die „Personalität Gottes“ von dieser Erkenntnis her gründlicher und existenzieller zu reflektieren, wäre Helmut Schmidt nie in den Sinn gekommen – ebenso wenig wie die Möglichkeit, dass der Sinn von Religion sich womöglich doch nicht ganz in der bloßen sozio-kulturellen Dynamik von klerikalen Karrieren erschöpfen könnte.

„Die Aufgabenteilung zwischen Politik und Religion ist so alt wie die christliche Kirche. Der Papst auf der einen, der Kaiser auf der anderen Seite. Es war immer ein Kampf zwischen beiden Autoritäten. Ganz anders im Islam. Da hat es den Kampf zwischen diesen beiden Autoritäten nicht gegeben. Der Kalif verkörperte beide Autoritäten, ob es der Kalif in Bagdad war oder der andere in Córdoba. Im Konfuzianismus, den ich mehr für eine Weltideologie halte als für eine Weltreligion, hat es diese Dichotomie auch nicht gegeben. Sie ist ein Spezifikum der Europäer und Nordamerikaner. Eine der großen Schwächen des Christentums. (…) Ich wäre glücklich, wir hätten eine Staatsphilosophie wie die Chinesen, wo es diesen Zwiespalt nicht gibt, wo aber auch der Kaiser, der oben darüber schwebt, ob es ein Mandschu ist oder ein Han-Chinese oder ein mongolischer Kaiser, der die Chinesen beherrscht, Pflichten hat und vom Himmel abgerufen werden kann. Aber wer der Himmel eigentlich ist, das bleibt ganz unklar, ganz nebulös. Es gibt keine Riten, und für den Himmel werden auch keine Tempel gebaut. Er wird auch nicht verehrt. Der Kaiser wird verehrt, aber der Kaiser ist dem Himmel unterworfen. So eine Staatsphilosophie ist in meinen Augen dem ewigen Krieg der Europäer gegeneinander durchaus vorzuziehen.“

Dieser Standpunkt verkennt völlig, dass die Wiedervereinigung von Religion und Politik nach antikem Muster notwendig ein herrscherliches „Gottesgnadentum“ bedingt, dessen trostlose bis fürchterliche gesellschaftliche Konsequenzen die von Schmidt so gelobte Aufklärung erfreulicherweise beseitigt hat. (Ganz abgesehen davon, dass die Trennung von Religion und Politik tatsächlich bei weitem nicht so alt ist wie der antike Ursprung der Kirche; hier sind leider auch die „Fakten“ falsch.)

Fazit: Helmut Schmidt war als gebildeter sozialistischer Humanist vollkommen „unmystisch“ oder, wie man auch sagen könnte, total „mystisch unmusikalisch“.

Das mindert nicht die Feststellung: Er war ein großer Geist und ein noch größerer Charakter, der seinen Frieden finden möge.

Gedanken zur Familiensynode

Es gibt nichts zu spekulieren. Man muss jetzt ruhig halten und still abwarten. Aber unser Medienbetrieb, der ständig Formate und Programme zu füllen hat, kann das gar nicht.

Hat der Papst gut daran getan, die eigentlichen Verhandlungen der Synode entgegen dem früheren Usus nichtöffentlich zu halten? Der Vorteil ist die Freiheit der Rede, der Nachteil das Misstrauen, die Berichterstatter könnten die Debatten nachträglich in ihrem Sinne schönen. Ich denke, er hat das kleinere Übel gewählt. Damit kämpft er ganz stimmig an der Medienfront gegen den Ungeist des Konsumismus, wie er es auch sonst überall und jederzeit tut. Er zwingt die Interessierten, die sonst nichts tun können, zum Beten. Das hat sehr viel Sinn.

Man könnte sagen, wir müssen nicht auf das Ende der Synode warten, sondern auf das spätere Dokument des Papstes. Aber da der Papst ganz gewiss auf die Realität der Weltkirche eingehen wird, so wie sie sich während der Synode darstellt, ist der augenblickliche Prozess doch von sehr großer Bedeutung.

Mögen die theologischen Konfliktparteien, so wie sie derzeit auf der Synode repräsentiert sind, auch brüderliche Konkordanz anstreben – daheim zelebrieren ihre Gefolgschaften in den unermüdlichen Medien doch kaum bemäntelte Unversöhnlichkeit.

Das Schicksal der katholischen Kirche wird nicht in Rom entschieden. Der gegenwärtige Papst weiß das, er macht nur das Beste aus der Situation. Was Besseres als die Streithähne zum Miteinander-Reden zu zwingen, kann er nicht tun. Ob das die Einheit der Kirche retten wird, liegt nicht beim Papst, es liegt bei Gott allein.

Von der Gefahr eines neuen Schismas zu sprechen ist kein Unkenruf, es ist heilsamer Realismus. Einerseits kann man sich sagen: Wenn auf der Synode alle Beteiligten hochnervöse Angst vor einer Spaltung haben, werden sie eine solche auch zu verhindern wissen. Das mag sein. Aber wie weit reicht das? Das unterstellt, dass die Spaltung sich durch einen Willensakt vermeiden lässt. Für die aktuelle Synode selbst könnte diese Annahme vielleicht gelten. Aber für die Weltkirche in zwanzig oder auch schon in zehn Jahren?

Große konservative Teile der weltweiten katholischen Kirche sind eisern entschlossen, in der Debatte um deren förmlich-faktisch geltende rigide Doktrin über die christlichen sozialen Lebensformen keine Handbreit nachzugeben und dementsprechend nicht einmal ein bloßes versöhnliches Zeichen in dieser Richtung zu senden. Andere Teile der Kirche werden diesen Weg unter keinen Umständen mitgehen, ohne deswegen ihr profundes und glühendes katholisches Selbstverständnis aufzugeben. Es ist zu erwarten, dass die letztere Gruppe sich auf Dauer als etwas kleiner erweist als die erstere, aus dem einfachen Grund, weil die sogenannten „Progressiven“ auch die mit einer Lossagung von der Kirche innerlich Ringenden mit einschließen, von denen einige diesen Schritt unvermeidlich vollziehen werden, wenn sie sehen, dass ihre Position sich in der Weltkirche nicht eindeutig durchsetzen kann. Aber das bedeutet nicht, dass die Ultrakonservativen deswegen irgendetwas zu „gewinnen“ hätten. Sie treiben die Kirche mit ihrem harten Kurs ins weltgesellschaftliche Abseits.

Sie bedienen sich des bewährten „Ockhamschen Restarguments“. Ihre theologischen Begründungen sind plausibel, konsistent und kohärent. Doch das gilt für diejenigen genauso, die die Ansicht vertreten, die Stärke des Christentums und des Katholizismus liege gerade darin, auf die besonderen gesellschaftlichen Umstände einer bestimmten Zeit präzis eingehen zu können. Das hat den Missionserfolg des Christentums begründet, und es wurde unterm Strich immer als richtig angesehen. Sogar vom heiligen Wüsten- und Mönchsvater Antonius, der gewiss nicht als „Liberaler“ gilt, ist die Metapher vom „überspannten Bogen“ überliefert (Verba Seniorum X,2, Migne PL 73, S. 912). Wenige Seiten zuvor im selben Vätertext findet sich übrigens ein Wort von Papst Franziskus, das dieser spektakulär auf Homosexuelle in der Kirche münzte, von dem aber nur allzu wenige erkannt haben, dass es ein ehrwürdiges Zitat des Abbas Poimen ist: „Wenn du Ruhe finden willst in dieser und in der kommenden Welt, sag in jeder Angelegenheit: Wer bin ich? und urteile über niemanden.“ (IX,5, Migne PL S. 910)

Jene Katholiken, denen ich mich anschließe, werden ihr Christsein weiterhin in einer weit offenen und gleichzeitig ihrer eigenen Überzeugung zufolge ungebrochen katholischen Art und Weise leben. Dabei erkennen sie, dass die Positionen der kirchlichen Ultrakonservativen von Bedürfnissen und Ängsten bestimmt sind, und versuchen diese zu stillen und zu lindern; allerdings nicht auf Kosten derer, die sich nicht nur schmerzhaft, sondern auch gegen den Willen Christi ausgeschlossen fühlen müssen, wo ultrakonservative Vorstellungen die Kirche unwidersprochen gestalten dürfen.

Grün-Braun

Dass Neonazis Umweltschutz und Veganismus in ihre „völkische“ Weltanschauung integrieren, wird neuerdings verstärkt Thema in den Medien.

Ihre Verwendbarkeit und Verwertbarkeit als Versatzstücke im Rahmen vielerlei verschiedener Ideologien zeigt nur, dass diese Themen eben bloß Bruchstücke einer Lebensorientierung sind, die in sich selbst noch keine geistigen „Gesamtpositionen“ begründen.

Die Artikulierung „grün-brauner“ Gesinnungen wird vor allem für diejenigen eine böse Überraschung sein, die meinen, das Engagement für Natur und Ernährung zur tragenden Grundlage einer ganzen Weltsicht erheben zu können.

Aber dazu reichen diese Themen eben bei weitem nicht aus. Sie sind keine „Substanzen“, nur „Akzidentien“ – noch dazu ziemlich „wohlfeile“, wie man sieht.

Coming Out vor versammelter Synode

Ein aus Polen stammender 43-jähriger Vatikan-Theologe hat heute bekannt, dass er glücklich homosexuell ist und trotz seiner Priesterweihe auch einen Lebenspartner hat. Die Konsequenzen will er tragen, aber es sei Zeit, dass die Kirche sich disziplinarisch bewege, und dazu wolle er mit seiner Offenheit beitragen.

Meine erste Reaktion: große Freude. Meine zweite Reaktion: Am Vorabend der „Familien-Synode“ gehört sich so etwas nicht, es ist auf peinlich platte Weise propagandistisch.

Allerdings wird im Vorfeld dieser Synode längst mit „harten Bandagen“ um die Zukunft der Kirche gekämpft.

Peter Turkson über Klima und Leben

Kardinal Peter Turkson aus Ghana, Präsident des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, wird von „The Guardian“ am vergangenen Freitag mit der Aussage zitiert, Themen wie Abtreibung und Todesstrafe seien für die katholische Kirche wichtiger als Klimaschutz. Ethische und ökologische Fragen ließen sich nicht auf dieselbe Stufe stellen.

Vergleiche sind immer eine brisante Angelegenheit. Falls Kardinal Turkson mit dieser Äußerung absichtsvoll das kritische Reflektieren über den problematischen menschlichen Einfluss auf die irdische Klimahistorie relativieren, depotenzieren oder gar diskreditieren will, gefällt mir das nicht. Aber zunächst einmal ist seine Wortmeldung an und für sich inhaltlich einwandfrei richtig.

Denn unsere Theorien zum Thema Mensch und Klima können strukturell nie dieselbe Evidenz annehmen wie das Faktum der gewaltsamen Beendigung eines physischen Lebens. Eine Tötung ist ein präzis definierter und bestimmbarer Vorgang, der sich eindeutig erkennen lässt. Das Phänomen, das wir als Klima bezeichnen, ist seinem ganzen Wesen nach ein Paradebeispiel für höchst komplexe Mischkausalität. Wissenschaftler haben kürzlich ihre vergleichende Analyse von knapp 2000 Medienbeiträgen über den Klimawandel präsentiert, die im Herbst 2013 erschienen waren. Dabei wurde erstmals mit einer neuartigen Aufrichtigkeit die ganze mangelnde Objektivität des Klima-Diskurses deutlich. „Amtliche“ Stellungnahmen aber haben die primäre Funktion, Sachverhalte zu beurteilen, die evident sind. Insofern ist Turksons Bemerkung von bester Richtigkeit.

Und nun lasst uns als Katholiken von neuem und nur umso gründlicher über unser Verhältnis zum Klimaschutz nachdenken. Vielleicht kommen wir dann ja darauf, dass wir als Katholiken gerade deshalb die wichtigste Rolle im globalgesellschaftlichen Klima-Bewusstwerdungsprozess einzunehmen haben, weil es die spezifische Eigenschaft unserer authentischen religiösen Position ist, zwischen Ignoranten und Hysterikern die goldene Mitte zu bilden.

Was tun mit den Flüchtlingen?

Wir müssen so viele Flüchtlinge wie möglich bei uns aufnehmen. Aber diese Möglichkeit wird eine Grenze erreichen, und sie wird sie auch überschreiten: Wenn anhält, was sich gerade ereignet – und dieser Fortgang ist ernsthaft möglich -, dann wird der chaotische Zustrom die Kompensations-Kapazität der bestehenden und als solche den weitaus meisten Bürgern im Grunde uneingeschränkt erwünschten deutschen Gesellschaftsordnung nicht nur gemäß den Befürchtungen einiger polemisch-schwarzmalerischer Außenseiter übersteigen, sondern dann wird dies tatsächlich bald geschehen. Die erste Reaktion darauf wird dann ganz zwangsläufig sein, die Notlagen der einzelnen Flüchtlingsgruppen gegeneinander abzuwägen und die Gefährdetsten aufzunehmen, die Übrigen jedoch zurückzuweisen. Mit der inneren Stabilität Deutschlands und dem Wohl der Flüchtenden stehen dann zwei höchste Werte in Konfrontation, die gegeneinander auszuspielen keinen Sinn ergibt, denn mit der Stabilität Deutschlands würde auch das Fluchtziel der Geflohenen in seiner Sinnhaftigkeit entfallen. Wie rasch ein solcher gesellschaftlicher Kollaps wirklich eintreten könnte, ist eine spezialistische Frage. Ich möchte hier zunächst das Grundsatzproblem erörtern, dass wir damit in eine Situation kommen, aus der es kategorisch keinen moralisch einwandfreien Ausweg mehr gibt. Entweder wir zerstören unser Land, oder wir liefern Flüchtlinge dem Elend und dem Tod aus. Von einer wirklichen, echten Eskalation dieses Dilemmas sind wir zwar meines Erachtens noch weit genug entfernt, dass mir alle einschlägige dramatische und gewaltsame Rhetorik derzeit schlicht den Straftatbestand der Volksverhetzung zu erfüllen scheint. Wir sind aber andererseits der Möglichkeit, Denkbarkeit und Vorstellbarkeit einer solchen Eskalation doch bereits hinreichend in konkrete Sichtweite gekommen, dass wir uns mit der damit verbundenen überaus unbehaglichen Grundsatzfrage hier und jetzt und unverzüglich eingehend philosophisch konfrontieren müssen.

Einige Intellektuelle unter uns disqualifizieren den Ausdruck „Gutmensch“ als Teil der typischen Sprache des Nationalsozialismus. Da diese Historisierung nach meiner eigenen Überprüfung zumindest nicht als eindeutiger Befund gelten kann, sondern hauptsächlich ausdrückt, wie unbequem dieses Etikett in den Ohren der betreffenden heutigen Intellektuellen klingt und wie empfindlich sie sich dadurch getroffen fühlen, wage ich es, diesen Ausdruck hier einmal bewusst provokativ zu gebrauchen: Der „deutsche Gutmensch“ der Nach-1945-Epoche sucht und strebt prinzipiell mit seiner ganzen Kraft nach einer Lösung aller Krisen, die ihn moralisch gänzlich unbescholten und tadellos dastehen lässt. Der größte Verlust an unserer heutigen und weiterhin zunehmenden kulturellen Vergessenheit gegenüber der Essenz des Christentums besteht eigentlich darin, dass damit unsere orthopsychische und spirituelle Kompetenz gesellschaftlich evaporiert, eingehend, ernsthaft, authentisch und vital kompensieren zu können, dass im menschlichen Leben immer wieder komplexe dilemmatische Zusammenhänge auftreten, in denen es zu einer solchen „moralischen Weißwäsche“ keine Mittel mehr gibt. Wer nicht zutiefst kontemplativ „Sünder sein kann“, findet immer nur vergleichsweise kranke Verhaltensoptionen in einem solchen Fall. Unser „Sünder-Sein“ ist die ungeliebte Essenz des Christentums. „Gutmenschen“ hingegen wollen immer nur das Beste und verursachen gerade damit oft genug das Schlimmste.

Ich postuliere, dass überhaupt nur substanzielle Christen sich halbwegs „befriedigend“ geistig, seelisch, moralisch und gesellschaftlich durch die enorme Herausforderung der aktuellen Flüchtlingskrise in Deutschland bewegen können, indem sie zu völlig ideologiefreien Verhaltens- und Handlungsentscheidungen in der Lage sind. In ihrer authentischen Geisteswelt gibt es weder ein psychologisches Zwangsmuster, unbedingt, unbeschränkt und unbegrenzt jeden Flüchtlig als solchen aufnehmen und „mit einer neuen Komplett-Existenz versorgen“ zu müssen, noch ein programmatisches Bedürfnis, bis zum Totalitären prinzipielle Gewaltlösungen wie das Errichten von Abwehrmauern an den vermeintlichen Grenzen Europas zu finden; und genauso wenig gibt es in einem echt christlichen Bewusstsein, dem klar ist, dass wir Erdenbewohner „strukturelle Sünder“ sind, einen prinzipiellen Ausschluss der Möglichkeit resoluter militärischer Interventionen gegen politische Groß-Verbrecher. Sollte sich nämlich immer deutlicher abzeichnen, dass ein pseudo-christliches absolutes Kriegs-Tabu wesentliche Mit-Ursache der Zuflucht ist, die Zigtausende derzeit in Deutschland suchen, stehen wir mit dieser Erkenntnis nämlich nur vor dem nächsten „Gutmenschen“-Dilemma. Die Konfrontation der Deutschen mit dieser gewiss gar nicht beruhigenden „Meditation“ muss jetzt eine schonungslose sein, sofern überhaupt noch ein relevanter Anteil von ihnen echte Christen und nicht nur „Weihnachtschristen“, „Schönwetterchristen“ oder „Plapperchristen“ sind.

Merkel in Bern

Angela Merkel hat ihren Ehrendoktortitel der Universität Bern entgegen genommen. Gegen Ende der Feierstunde wurde sie gefragt, wie sie nicht zuletzt angesichts massenhafter flucht- und vertreibungs-genährter Einwanderungshoffnungen Europa gegen Islamisierung zu schützen gedenke. Ihre nicht sonderlich gutgelaunte, aber sehr souveräne Antwort darauf war in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Einerseits machte sie überraschend deutlich, dass jeglicher Sinn einer europäischen „Abwehr“ des Islam gegebenenfalls überhaupt nur auf der Intensität und Authentizität beruhen kann, mit der „wir“ selbst Christen sind und dies auch konkret unter Beweis stellen, bis hin zu einem gewissen Maß praktizierter Kirchlichkeit. Zum anderen begründete sie die gebotene politische Einmischung Europas in die gegenwärtigen „innerislamischen“ Konflikte mit der Feststellung, „wir“ hätten zu diesen Eskalationen schließlich auch jede Menge „Kämpfer beigetragen“, also Dschihadisten in europäischen Ländern „wachsen“ lassen, die ausreisen, um an jenen Glaubenskriegen oder jedenfalls „religiös unterfütterten“ Groß-Gewalttaten aktiv teilzunehmen, als deren Folgen aktuell zigtausende Flüchtlinge an die von ihnen für schützend gehaltenen Grenzen Europas anbranden. Der ersten These kann ich in vollem Umfang recht geben: Wenn man eine Religion zurückweisen möchte, kann dies sinnvoll nur von der soliden Basis einer anderen Religion aus geschehen. Die zweite These bedarf einer Ergänzung bzw. des Hinweises auf eine bemerkenswerte Lücke oder Auslassung: Europa hat nicht nur islamistische Gotteskrieger in die religiös aufgeladenen Krisenherde dieser Welt exportiert, sondern dazu noch eine weit größere Zahl an Waffen. Dass die Bundeskanzlerin beim gegebenen Anlass von letzterem schweigt, kann ich politisch nachvollziehen, aber moralisch nicht auf sich beruhen lassen. Der Reichtum, den Europa sich zu einem nicht unerheblichen Teil mit seiner Rüstungsindustrie verdient hat, muss selbst bei Akzeptanz der These, dass kein Hersteller eines Geräts dafür verantwortlich ist, was der Benutzer damit anstellt, jetzt zumindest dazu verwendet werden, den aus von diesen Waffen verwüsteten Gebieten Geflohenen in Europa ein menschenwürdiges Asyl einzurichten.

Zur Lage

Gestern Abend wurde ich auf das relative Versiegen dieses meines Blogs in den letzten Monaten angesprochen. Es hat mich sehr gefreut, dass er vermisst wurde. Meine Familienpflichten werden derzeit nicht geringer. Trotzdem soll dieser Blog möglichst lebendig bleiben. In der Kürze liegt die Würze.

Heute habe ich mir überlegt, über welche kirchenpolitischen Themen der letzten drei Monate ich hier noch nicht geschrieben habe. Tatsächlich hat mein Blog in diesem Sinne, wenn man es grundlegend betrachtet, „nichts verpasst“. Es setzten sich lediglich Entwicklungen fort, die hier im Prinzip alle bereits kommentiert wurden. Das gilt bis einschließlich der gestrigen Meldung einer Rekord-Kirchenaustritts-Statistik für das vergangene Jahr. Das ist symptomatisch für die jüngste katholische Stagnation, die wie eine Zwischen-Eiszeit während einer Warmzeit anmutet.

Alle hoffen auf „den Franziskus-Effekt“. Diese Haltung empfinde ich zunehmend als eine Bankrott-Erklärung. Franziskus selbst hofft nicht auf den Franziskus-Effekt. Er fordert zu etwas anderem auf.

Alle fragen sich: Worum geht es ihm im Kern eigentlich? Hier der Versuch einer Antwort.

Die katholische Kirche hat das Schicksal aller Großinstitutionen erlitten und ist das Opfer ihrer eigenen Korrektheit geworden.

Es gehört mit zu den rätselhaftesten Dilemmata der Menschenwelt, dass Korrektheit in letzter Konsequenz in tödlicher Weise unbeweglich macht. Der amtliche Gegenwarts-Katholizismus ist zu Tode korrekt.

Vielleicht mit das Wichtigste an Franziskus‘ bisherigem Pontifikat waren deshalb seine fast schon zahlreichen Äußerungen, die aus der Perspektive amtskatholischer Super-Korrektheit schreckenerregend „daneben“ waren. Der arme Vatikansprecher Lombardi ist inzwischen zum Gesicht dieser Korrektheit und dieses Schreckens geworden.

Keine Frage: Heilige Stuhlfinanzen gehören geklärt und priesterliche Missbräuche aller Art rigoros ausgemistet. Andererseits: Wohl der hehren Institution, die überhaupt noch ihre Skandale hat. Bei den anderen kommen sie nämlich lediglich nicht ans Licht.

Wenn es so etwas wie einen Franziskus-Effekt überhaupt gibt, dann muss er sich auf das Merkmal der gewagten Unkorrektheit beziehen, das dem schrägen Vogel aus Assisi als erstem Heiligen der Kirchengeschichte so markant eignet.

Die katholische Kirche in Deutschland entwickelt sich heute mehr und mehr zu einer Veranstaltung von Vorbildsbürgern. Und je bußfertiger diese theologisch korrekt betonen, sie bildeten eine „Kirche von Sündern“, desto vorbildlicher sind sie. Sie wissen, dass sie Sünder sind; aber sie wollen unter allen Umständen korrekte Sünder sein.

Fachlich-theologische Fragwürdigkeiten in einzelnen vertretenen Positionen hin oder her: Sogar die KirchenVolksBewegung „Wir sind Kirche“ besteht bis dato weit überwiegend aus paradigmatischen „Korrekt-Katholiken“. Und manchmal frage ich mich, ob nicht vielleicht genau das der Grund ist, weshalb diese Bewegung weniger öffentliche Wirkung erzielt, als sie meiner Erwartung nach eigentlich erzielen müsste.

Mit „Theologie der Sünde“ sind wir längst hinreichend aufgerüstet. Was wir endlich brauchen, ist eine neuartige „Theologie der Unkorrektheit“. Bisweilen denke ich, dass es uns nur unter dieser Voraussetzung überhaupt gelingen kann, als Katholiken und als Kirche wieder lebendig zu werden.

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