Fronleichnam – nicht immer; Gastein – überall

„Heute“ vor genau 140 Jahren malte Adolph von Menzel die Fronleichnamsprozession in Hofgastein. Das Bild ist eines der großen Meisterwerke der Malerei, es befindet sich in der Münchner Neuen Pinakothek, wo es mich schon als vielleicht zehnjähriges Kind kulturbeflissener Eltern immer wieder besonders ansprach.

Der Name „Bad Gastein“ ist zweifellos bekannter als „Hofgastein“. Hofgastein ist der alte Ort im Salzburger Pongau. Durch und um die ihm nahegelegenen Heilquellen entwickelte sich seit dem sechzehnten Jahrhundert ein therapeutischer Badebetrieb, der im neunzehnten Jahrhundert seinen Höhepunkt erreichte und seitdem immer stärker mit dem traditionellen dörflichen Leben Hofgasteins in ein soziales Spannungsverhältnis zu treten begann. Das internationale städtische Kur-Publikum des vorgerückten neunzehnten Jahrhunderts warf auf das lebendige katholische Brauchtum der Pongauer jene wenig respektvolle, amüsierte Art von Blick, mit der man „Folklore“ betrachtet, einen Blick, der ein beträchtliches Verletzungspotential enthält gegenüber allem, was sich nicht selbst leichthin als „bloßes Brauchtum um des Brauchtums willen“ verstehen möchte.

Das im dreizehnten Jahrhundert erfundene Fronleichnamsfest ist als Zelebration der Transsubstantiationslehre das „Ideenfest“ par excellence, eine doktrinär gesteigert aufgeladene Selbstverklärung der hochscholastischen Sakramententheologie. Ausgerechnet diese extreme theologische Abstraktion wurde im neunzehnten Jahrhundert zum Kristallisationspunkt der konfessionellen Selbstidentifikation eines unakademischen religiösen Milieus – und ein frühmodernes großbürgerliches Milieu, das sich der Begrenztheit seines eigenen kulturellen Horizontes nicht bewusst war, welcher sich bei Menzel symbolisch in der bräsigen Leibeswohlergehens-Zentriertheit affluenz-behäbig inszenierten Thermalbadens erschöpft, machte sich in der felsenfesten Überzeugung seiner inkommensurablen Überlegenheit über die vermeintlich rückständige „ländlich-bäuerliche Aberglaubens-Kultur“ lustig, ohne objektiv betrachtet genügend Grund zu solchem Dünkel zu haben.

Genau diese subtile Wahrnehmung fängt Menzels bahnbrechender Realismus in dem Gemälde von 1880 bildhaft ein: Von links oben aus dem Hintergrund kehrt die Fronleichnamsprozession zur Dorfkirche zurück; auf halber Höhe des Bildes biegt sie zum Gotteshaus hin ab, dessen Eingang am rechten Rand zu erkennen ist; knapp links der Bildmitte trägt der Priester die Monstranz unterm Baldachin; er hat sie aber nicht allzu hoch erhoben, sondern beugt sich fast eher wie schützend über sie; während vor ihm schon einer der reich geschmückten Fahnenträger den Flaggenstock gesenkt hat, um durch den Torbogen des Kirchhofsgatters eintreten zu können. Im Vordergrund rechts ist die Gruppe der als Gäste zur Kur weilenden „Kosmopoliten“ zu studieren, die das Ereignis sichtlich ohne jede seriöse Anteilnahme wie ein seichtes Unterhaltungsangebot in der Langeweile ihres Genesungsaufenthaltes (aufgrund welcher mehr oder weniger eingebildeten Leiden auch immer) registrieren; mindestens eine dieser Personen quittiert das Schauspiel sogar mit einem Gesichtsausdruck unverkennbaren Hohns und mit einer ostentativ flegelhaften Haltung; dieser dandyhafte Mann, in seinem schönen hellbraunen Sommeranzug gleichsam ungebührlich die rechte Bildmitte okkupierend, ist zudem die einzige Gestalt, die den Maler direkt anblickt, indem er sich vom soeben relativ dicht an ihm vorbeigetragenen Sakrament in provokativem Desinteresse abwendet.

Neben ihm steht nur noch ein weiterer Repräsentant der Zugereisten näher am religiösen Geschehen; dieser, etwa gleichen mittleren Alters wie der Vorige, in einen hellen grauen Anzug gekleidet, wendet sich zwar in einer würdevollen Gebärde kühler Höflichkeit dem vorüberschreitenden und ohne eine Aura frischer Leichtigkeit, wohl erschöpft, soeben einige Stufen des Kirchhügels erklimmenden Priester zu – aber auch der Blick dieses „diplomatischeren“ distanzierten Zeugen richtet sich nicht auf die in den Händen des Geistlichen ausgestellte Hostie, sondern der Kopf dieses Besuchers ist zur Seite gewendet und betrachtet etwas, das sich gleichzeitig im linken Vordergrund des Bildes darbietet.

Dort nämlich sieht man, für den Bildbetrachter in Rückenansicht, zwei trotz ihrer Zerlumptheit an den dürftigen Rudimenten ihrer Bauerntracht als einheimisch erkennbare Männer, einen alten und einen jungen, vielleicht Vater und Sohn, der Ältere auf Krücken mit einem schwer untüchtigen, verbundenen Fuß, der Junge trotz des hohen Feiertages barfuß vor dem Allerheiligsten kniend – zu offensichtlich ist, dass er keine Schuhe besitzt, geschweige denn einen Festtagsrock. Der im grauen Anzug ist gewillt, dem ihm fremden Kult mit einigem echt aufmerksamem Wohlwollen beizuwohnen – aber der ihm nicht entgehende Anblick der marginalisierten Armut am Rande des Prozessionsweges lenkt ihn ab, und die stille Empörung kann in ihm nicht fern sein darüber, dass hier zwei, denen es offenbar um ihren Gottesglauben ernst ist, sich aufgrund des Stigmas ihrer materiellen Bedürftigkeit vom Rest ihrer frommen Gemeinde wie Aussätzige absondern zu müssen meinen, was die drängende Frage aufwirft, ob diese unglückliche Familie ihr separatives Verhalten aus reiner schamerfüllter Subjektivität an den Tag legt, oder ob nicht die stolze katholische Bauerngemeinde womöglich sehr wenig dazutut, diese Armen vom Gefühl ihrer krassen Ausgeschlossenheit zu entlasten.

Für mich ist und bleibt Menzels „Fronleichnamsprozession in Hofgastein“ ein aufwühlendes Bild, das ein ganzes Panorama an Kontroversen zwischen verschiedenen Perspektiven auf ein dem ersten täuschenden Blick problemlos-frühsommerheiter erscheinendes Geschehen meisterhaft bündelt. Der längst berühmte Maler der Hofgasteiner Szene von 1880 war ein zu diesem Zeitpunkt bereits fünfundsechzigjähriger, durch und durch von preußischen Idealen bestimmter Protestant, der nie zuvor mit einem ähnlichen Thema an die Öffentlichkeit getreten war. Virtuos unaufdringlich-eindringlich prangert er in seinem Bild die Unmenschlichkeit eines starren Ritualismus ebenso an wie die unerträglich blasierte Ignoranz all jener, die, auf wackeliger Grundlage welcher ideologischen Rationalisierungen auch immer, alle „gleichermaßen schnell fertig sind mit dem Geheimnis Gottes“, wie Tomáš Halík es einmal (am Anfang seines erfolgreichsten Buches) treffend formuliert hat. Menzels Bild erinnert uns daran, dass die Probleme, die die traditionelle christliche Kirchlichkeit in unserer eigenen Zeit am Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts endgültig zu pulverisieren scheinen, bereits vor anderthalb Jahrhunderten erkennbar begonnen haben – und dass schon damals ein beobachtungsgeübtes Auge erkennen konnte, dass wesentliche Ursachen dafür von beiden Seiten beigesteuert wurden, von der kirchlichen wie von der weltlich-kulturellen Seite gleichermaßen.

Man kann nur hoffen, dass der Branca-Bau der Neuen Pinakothek, der derzeit aufwändig renoviert wird, bald wieder viele Menschen zur Meditation vor Kunstwerken wie diesem einladen möge, die uns typischerweise im Spiegel des geschichtlich radikal kontingenten Miniaturhaften, das sie vorführen, überraschende und berührende Einsichten in unser eigenes gegenwärtiges menschliches und gesellschaftliches Dasein zu eröffnen vermögen.

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