Brexit

Vorweg eine harte, nüchterne Feststellung: Die Briten haben nie „wirklich“ zum geeinten Europa gehört, sie haben sich nie entsprechend verhalten und auch nie entsprechend gefühlt. Es ist gut, dass mit dem bisherigen grenzenlosen Feilschen um britische Sonderrechte in der EU jetzt konsequent Schluss sein wird, weil das wünschenswerte Klarheit schafft.

Abgesehen davon: Der „Brexit“ ist ein typisches Beispiel für eine Situation, in der Ideen über Realitäten gestellt werden. Als religiöser Mensch habe ich das nicht grundsätzlich zu beanstanden. Aber welche Ideen? „Europa“ war und ist eine Idee, die zwar schön und gut ist, mit dem entsprechenden Pathos der 1970er- bis 1990er-Jahre allerdings deutlich überbewertet war. Der „Brexit“ hinwiederum nimmt in Großbritannien offensichtlich eine aufgeblasene politische, nationale und kulturelle Identifikationsfunktion von in Wahrheit noch einmal erheblich geringerem echtem substantiellem, geschweige denn existenziellem Wert ein. Gewinnen wird Großbritannien mit der Verwirklichung dieser Idee in der konkret-praktischen Realität überhaupt nichts, verlieren einiges. Jeder, dessen Denken nicht von Ideologen geblendet ist, kann diese Tatsache nicht verkennen.

Aber das Denken sehr vieler ist eben von Ideologien geblendet – nicht nur in Großbritannien, sondern auch in Europa. Ihre Zahl nimmt überall wieder zu, und ihre Ideologien sind zweifellos durchweg das, was man in plumper Lagerisierung „rechts“ zu nennen pflegt. Dieser „rechte“ Partikularismus muss aber nicht nur apotropäisch, sondern auch diskursiv ernst genommen werden, insofern hinter ihm Ängste drängen. Zu den Ursachen dieser Ängste gehören unter anderem ganz wesentlich ein Verfall der öffentlichen Anwaltschaft für echte, persönlichkeitsformende Bildung entgegen bloßer – immer spezialistischerer und „fachidiotischerer“ – Berufsausbildung, eine teilweise rätselhafte, sicherlich komplexe, sicherlich multikausale Epidemie orthopsychischer Schwäche in den durchschnittlichen Charakteren unserer mittleren Generationen, und ein dramatischer Verlust an spiritueller Lebenshaltungsfähigkeit. Die „Eliten“ in Großbritannien waren mit überwältigender Mehrheit gegen den „Brexit“. Es sind im wesentlichen die „dumpfen“ und vielfach irrationalen Motivationen der „kleinen Leute“, die Großbritannien aus der EU katapultiert haben – weil das, wovon die Geschichte der letzten Jahrzehnte diese „kleinen Leute“ wirklich „abgehängt“ hat, zu einem ganz wesentlichen Teil nicht materieller Wohlstand ist, sondern Lebensorientierung. Der „Brexit“ ist vor allem Orientierungssuche – verzweifelte.

Weitaus schuldiger noch als die britischen Wähler sind am „Brexit“ allerdings die Funktionäre der zentralen EU-Verwaltung.  Diese pseudodemokratischen Totalversager haben das vermeintlich geeinte Europa zu einem politischen After-System degenerieren lassen, das so kaum jemand will – auch ich nicht. Dieser Augiasstall muss jetzt endlich ausgemistet werden. Ein Misstrauensvotum gegen die EU-Komission und eine sofortige Auflösung des Europäischen Parlaments wären vielleicht ein guter Neuanfang.

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